Ines Schulze-Schlüter war auf Dienstreise, als ihr Bruder sich das Leben nahm. Am 13. Juni 1997, einem Freitag, erhängte Daniel sich im elterlichen Treppenhaus, „weil er wusste, dass unsere Mutter ihn dort finden würde“. Der damals 27-Jährige war zuvor mehrere Monate depressiv gewesen.
„Am Anfang war nur Wut“, erinnert sich die sieben Jahre ältere Schwester heute. „Wie konnte er so etwas tun? Was sollte diese Anklage?“ Die Trauer kam erst später: „Trauerlöcher“ von
unterschiedlicher Tiefe, manchmal Angst, selbst zu erkranken, auch das Gefühl, ebenfalls in die Depression abzugleiten. „Einige Jahre bin ich gut alleine damit klargekommen“, sagt die
Kommunikationstrainerin.
Vor gut eineinhalb Jahren allerdings knüpfte sie nach einem Fernsehbericht Kontakt zur „Selbsthilfegruppe für verwaiste Geschwister“, die einzige in der Region Köln / Bonn / Aachen, gegründet vor
fünf Jahren von der evangelischen Pastorin für Trauerbegleitung, Kristiane Voll.
In der Gruppe erfuhr Ines Schulze-Schlüter, dass andere Menschen die gleichen Erfahrungen wie sie selbst gemacht hatten. Dass beim Tod eines Kindes meistens die Eltern mit ihrer Trauer im
Mittelpunkt stehen, dass die Geschwister oft mit der Frage konfrontiert werden: „Und, wie geht es deiner Mutter?“ Irgendwann sei ihr klar geworden, „dass ich jetzt dran bin als trauernde
Schwester“. Häufig, sagt Pastorin Voll, fühlten sich die Kinder sogar für ihre Eltern verantwortlich, „obwohl sie eigentlich etwas für sich tun müssten“.
Ines Schulze-Schlüter empfindet es als tröstlich, sich in der Selbsthilfegruppe mit Gleichgesinnten austauschen zu können, Schmerz zu teilen, sich gegenseitig zu bestärken. In den Gesprächen
werden Erinnerungen an das „facettenreiche Bild“ ihres Bruders wach. „Am Ende ist das Gefühl stärker: Ich bin froh, dass ich ihn hatte. Aus der Gruppe herauszugehen hat immer etwas Aufwühlendes,
aber Positives.“
Auf „plus / minus zehn“ Menschen habe sich in den vergangenen fünf Jahren die Teilnehmerzahl der Gruppe eingependelt, sagt Voll, deren Schwester 1988 an Krebs gestorben ist. Die meisten seien
zwischen 30 und 40 Jahre alt, manche kommen regelmäßig, manche seltener, der Kreis der Interessenten ist deutlich größer. „Dabei ist der Anteil derjenigen, die Bruder oder Schwester durch Suizid
verloren haben, relativ groß“, sagt Voll.
Die Todesfälle lägen sehr unterschiedlich lange zurück, ebenso der Zeitpunkt, an dem die Betroffenen angefangen hätten, sich mit dem Geschehen auseinander zu setzen. Für die Teilnehmer sei es
wichtig, dass ihre toten Geschwister in der Gruppe „eine feste Zeit und einen festen Platz“ hätten. Das entlaste sie in anderen Lebensbereichen, etwa im Beruf. [...]
Matthias Pesch
Kölner Stadtanzeiger, 22.11.2004